Die Chance

Lockdown Logbuch, Hans Platzgumer
im Wochenticker, 15. März - 1. Mai 2020

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> Essay "Zurück wohin?"
Ö1 Ex-Libris, Juli 2020,
gelesen von Till Firit

 
Sperrzonenleben, Woche #7:
Ich umarme dich
>pdf #7

Nach sieben biblischen Wochen hebt die Regierung die Ausgangsbeschränkungen auf. Ich beende meine Lockdown Chronologie. Die Dringlichkeit der literarischen Verarbeitung ist nicht mehr gegeben, denn die Umgebung des Protokollants befindet sich weder in einem akuten Ausnahme- noch gewohnten Normalzustand. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Die Zeit, als die Welt vor seinem Fenster menschenleer war und still zu stehen schien, verschwindet im Nebel der Erinnerung.
Das Virus, das uns mit roher Gewalt aus dem Alltag riss, ist nur mehr dank einiger Masken präsent, die getragen werden. Bald wird auch das außer Mode kommen. Auch die rot-weiß-roten Masken unserer Soldaten werden sich nicht auf Dauer halten. Laut gesundheitstechnischen Studien sind unsere Masken ohnehin „eher infektionsfördernd“. Die Kiste am Eingang des Supermarkts, in die Kunden greifen, um sich eine oder gleich mehrere Masken herauszufischen, wirkt auf mich eher wie eine Virenschleuder als eine sterile Umgebung. Manchmal sehe ich Passanten, die ihren Mund-Nasen-Schutz nur über den Mund tragen. So bekommen sie besser Luft, ich kann es ihnen nicht verdenken. Einen eigenartigen Anblick machen jene, die die Maske nur übers Kinn tragen. Sie atmen unbeschwert und verstehen das Utensil als eine Art Bartschutz. Auch auf dem Kopf getragene Masken, die am ehesten als Mütze oder Kopfschmuck zu bezeichnen wären, sind zu sehen.

Dennoch: Einen guten Monat lang ist die Strategie der Regierung aufgegangen, der Bevölkerung möglichst große Angst vor dem Virus einzujagen. Der Kanzler prophezeite, dass bald jeder von uns einen Coronatoten in seinem Bekanntenkreis haben würde und der Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems drohe. Der Zweck heiligte die Mittel. Das Virus nahm in Österreich nicht ansatzweise bedrohliche Ausmaße an. Deshalb werden von staatlicher Seite aus nun keine Verbote mehr ausgesprochen, höchstens Empfehlungen, in erster Linie wird Relativierung betrieben. Es wird behauptet, dass wir uns ohnehin jederzeit untereinander besuchen hätten können und der Staat niemals in die Privatsphäre der Bürger eingreifen wollte. Haben wir uns das nur eingebildet? Die Regierung habe niemals Panik machen wollen und ebenso wenig überreagiert. Inzwischen aber hat sie ein Problem: Die Leute glauben ihr nicht mehr alles. Zuvieles, was behauptet wurde, entsprach nicht den Tatsachen. Wer schenkt heute noch Virologen Vertrauen? Zu viele fadenscheinige Infektiologen, Epidemiologen, Pandemiologen haben sich in den Vordergrund gedrängt, zuviele Prognosen sich als waghalsig erwiesen, als wissenschaftlich nicht fundiert. Populärwissenschaftler lenkten die Aufmerksamkeit auf sich, ernsthafte Kollegen konnten nur aus dem Abseits anmahnen, was eigentlich die Wissenschaft ausmachen würde: Exaktheit, Neutralität, Messbarkeit, Beweisführung.

Ich erinnere mich, wie zu Beginn von der Notwendigkeit „verlässlicher Informationen“ und Transparenz die Rede war. Dieses Bemühen war in einer Informationsgesellschaft zum Scheitern verurteilt, in der jeder und jede augenblicklich Mitwissen und Mitspracherecht verlangt, das Sujet jedoch keine verlässlichen Daten hergibt. Aus der Not heraus wurde im Handumdrehen ein allgemeines Expertentum erschaffen, Menschen mit oder ohne Ausbildung, Erfahrung, Kenntnis kamen zu Wort, verkündeten Vermutungen als Tatsachen und lösten die Grenze zwischen Wissen und Glauben auf. Es braucht heute keine Rechtspopulisten oder hinterhältige Geheimdienste, um Fake News zu streuen oder Unsagbares zu sagen, wir erledigen es selber und richten damit Schaden an.
Gestern verlautbarte ein deutscher Infektiologe im öffentlich-rechtlichen Radio, es müsse vermieden werden, dass „Menschen unterschiedlicher Herkunft“ aufeinanderträfen. Vielleicht verfolgte dieser Mann – wie so viele – edle gesundheitliche Motive, in erster Linie aber unterfütterte er auf wissenschaftlicher Basis rassistische, xenophobe, die Gesellschaft destabilisierende Tendenzen. Es ist ein Segen, dass seine Stimme als nur eine von unzähligen im Sog unseres anarchischen Informationsflusses unterging. Seine Ratschläge sind in der durch den Lockdown von einem zusätzlichen digitalen Schub erfassten Welt schnell Datenmüll geworden.

Durch unser unübersichtliches Rasen entsteht aber nicht nur virtueller Müll, Beeinflussung und Konfusion, sondern auch eine neue Freiheit. Wenn kaum mehr etwas zählt, zählen auch Fehler kaum. Wenn andere sich schon zu weit hinauswagen und offensichtlich ihre Grenzen überschreiten, so darf ich es auch. Die Hemmschwelle sinkt, die Demokratisierung steigt, es können Dinge geschehen, die sich vorher niemand hätte vorstellen können – im negativen wie positiven Sinn. Ein neuer Mut, eine neue Selbstermächtigung tritt hervor. Das ist gleichwohl beängstigend wie befreiend. Vielleicht entsteht in dieser Berührung des Unmöglichen auch Neugier, Wissensdurst?
Zumindest ist unsere Gesellschaft eine vielstimmigere geworden. Nicht länger ist entschieden, wer recht hat und wer nicht. Je mehr Experten dazu geholt werden, desto mehr Unwissen wird offen gelegt, Pluralismus entsteht.
Hätte die Coronakrise unser Land nur wenige Monate früher getroffen, hätte keine gewählte, sondern eine reine Expertenregierung damit umgehen müssen. Wählerumfragen hätten keine Rolle gespielt. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie von Experten beratene Expertenminister unter Kanzlerin Bierlein das Land durch diese Situation navigiert hätten. Hätte sie gewagt, weniger autoritär aufzutreten und mehr Nichtwissen zuzugeben? Nichtwissen ist keine Schande, solange es nicht als sein Gegenteil verkauft wird.

Während all diesem Aufruhr schleicht sich das Virus, das dafür verantwortlich war, durch die Hintertür hinaus, versteckt sich dort, lauert auf seine nächste Chance und hinterlässt uns ein Trümmerfeld. Noch sind wir machtlos gegen es. Wenigstens aber brachte es nicht nur Zerstörung mit sich. Es öffnete ein mögliches Lernfenster für die Menschheit, riss es weit auf. Unverbesserliche Weltverbesserer wie ich setzten jede Menge Hoffnungen in dieses Momentum. Wir wünschten uns, dass die sich selbst in Überfluss erstickende und aus von sich selbst entfremdeten Individuen bestehende Konsumgesellschaft zur Besinnung kommen könnte. Wir könnten mit all dem destruktiven Unfug aufhören, den wir uns schleichend angewöhnt haben. Vor anderthalb Monaten betitelte ich dieses Logbuch „Die Chance“. Heute endet es.
Das Virus verfolgt nichts als das Ziel seines Überlebens. Wir Menschen, seine Wirte, sind zwar noch nicht imstande, es auszulöschen, wenigstens aber, es mit Sinn zu füllen. Wenn wir das tun, ist nicht alles umsonst. Die Pandemie ist wie unser Dasein ganz allgemein ein sinnfernes Geschehen, ein vergängliches Ereignis. Es nimmt irgendwann Fahrt auf, entwickelt eine Eigendynamik, beeinflusst verschiedene Geschehnisse und vergeht wieder. Fragen werden aufgeworfen und bleiben unbeantwortet. Uns bleibt nichts anderes übrig als der Versuch des Interpretierens. Fangen wir also damit an. Schütteln wir die Irrationalität ab, die so viele von uns ergriffen hat. Entledigen wir uns der Angst, die uns lähmt und am Denken hindert. Angst macht unfrei. In der Coronakrise wird sie gezielt eingesetzt. Erst wenn wir sie überwunden haben, können wir weiterkommen und die Dinge hinterfragen. Und wenn wir dann schon dabei sind, dann überdenken wir am besten gleich möglichst gleich alles. Wenn nicht jetzt, dann nie.

(Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtete ich auf die geschlechtergerechte Anpassung, was keinesfalls eine Diskriminierung bedeutet. Vom Soldaten bis zum Experten, gemeint sind: Soldat*innen, Expert*innen etc.)


 
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Sperrzonenleben, Woche #6:
Ein bescheidenes Maß von Zufriedenheit
>pdf #6

Die Welt, die mich umgibt, ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nicht länger sind wir locked down, nur locked in. Innerhalb einer abgezäunten Welt ist Österreich unsere kleine Spielwiese geworden, und zumindest hier fährt, scheint’s, alles wieder los, das fahren darf und fahren kann. Wir tragen den Lärm und die Abgase zurück in die Welt, Sprit ist billig wie nie, jeder, der eingesperrt war, strömt hinaus. Jeder – außer denen, die resigniert haben, und von denen wir auch in Statistiken nichts lesen – tut, was er irgendwie tun kann, weil er das Nichtstun nicht mehr will.
Auf dem Platz unter meinem Fenster stehen sich Menschen mit ein, zwei, drei, vier Metern Abstand gegenüber und rufen sich Small Talk zu. Manche vermuten wohl, dass sich Coronaviren auch über Mobiltelefone übertragen, denn sie sitzen auf einem Mauervorsprung, haben das Handy auf Lautsprecher und maximale Lautstärke gestellt und halten es mit gestrecktem Arm von sich. Zum Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung wird ein halber Meter extra social distancing herausgeschunden. Nur wenn sich die Leute ihre wieder und wieder verwendeten Einwegschutzmasken überstülpen, werden sie wortkarg. An der Wursttheke findet kein Pläuschchen mehr statt, dafür im Freien das Sich-Überbrüllen.
Da wir weder wissen, was verboten oder erlaubt ist, noch, was wir eigentlich tun sollen, ja was denn überhaupt geschehen ist, geschehen wird, geschehen soll, rennen wir planlos herum. Die Entschleunigung der letzten Wochen wird zur unbeholfenen Beschleunigung, die Untätigkeit zur Wiederbetätigung. Genau jetzt wäre Steuerung vonnöten, damit unsere Überfluss- und Wegwerfgesellschaft nicht sofort in alte Muster zurückkippt und unreflektiert dort weitermacht, wo sie Mitte März unterbrochen wurde. Fünf Wochen Stillstand hätten mehr sein können als einfach Bewusstlosigkeit. Doch was ich in Woche 6 beobachte, mutet nicht wie ein neues Bewusstsein an, eher wie der Beginn einer unkoordinierten Aufholjagd.

Wie früher fehlt uns jetzt schon wieder die Zeit, um die Dinge zu durchdenken und ein wenig Klarheit in die undurchschaubare Welt zu bringen. Zeit ist verloren gegangen. Wir begeben uns auf die Suche. Doch es scheint keine Suche nach neuen Ansätzen, sondern ein Sich-Sehnen nach Wiederherstellung zu sein. War der Lockdown kein Erweckungserlebnis, keine Madeleine, die wir in eine Tasse Tee getaucht haben? War er einfach nur Verlust, ohne Mehrwert, ohne Gewinn? Hätte er nicht wie für Proust auch Startschuss einer Suche nach Sinn und Wahrheit werden können? Quatsch!, höre ich Leute schreien. Proust ist über hundert Jahre her, zählt nicht mehr, hat eigentlich nie gezählt. Eine Katastrophe hat noch nie die Welt verbessert. Wir haben Zeit und das heißt Geld verloren. Das müssen wir wieder reinholen und zwar so schnell wie möglich. Für feinsinniges Reminiszieren ist jetzt nicht der Augenblick. Packen wir es lieber an wie damals, als die Wirtschaft zuletzt derartig am Boden lag, volle Kraft voraus, produzieren, konsumieren, um den Rest kümmern wir uns ein ander Mal.
Schon schiebt der große Koalitionspartner die ökologischen Interessen des kleinen weg. Schon gehen die Sticheleien auch intern los. Die Nachcoronazeit ist eingeläutet. Die neue Welt soll wie die alte sein und zwar unverzüglich. Die Fehler der Vergangenheit wollen wiederholt werden. Der Massentourismus wird so schnell wie möglich wieder reingekarrt, denn ohne die deutschen Urlauber stehen die Hotels in Ischgl leer. Und Kultur? Ja, die hochkulturellen Großevents müssen irgendwie gerettet werden, sie bringen Touristen ins Land. Und diese anderen Künstler können sich ja online verwirklichen.

Ich selbst gehöre zu diesen anderen, verwirkliche mich selbst seit über drei Jahrzehnten, wahlweise lieber offline als online. Jetzt schreibe auch ich Blogs und mache YouTube-Lesungen. Ich habe um ein 1000-Euro-Corona-Arbeitsstipendium angesucht, es wäre mehr oder weniger die erste Förderung, die ich je vom Staat bekäme. Mit den wegbrechenden Einkommensquellen sieht es danach aus, als müsste ich auf meine alten Tage zum Bittsteller werden. Brauche ich Almosen vom Staat? Wenn er mir die Möglichkeit nimmt, Geld mit meiner Tätigkeit zu verdienen, dann ja, immerhin zahle ich seit Jahrzehnten mehr Steuern, als mir lieb ist. Doch braucht Österreich solche Spinner wie mich überhaupt? Hat es uns jemals gebraucht? Wenn jetzt aufgeräumt wird, wo wird die Trennlinie zwischen Nützlich und Unnütz gezogen?
Die Coronakrise hat das Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich auf grausame Weise vorangepeitscht. Die Verlierer unseres Weltensystems verlieren nun doppelt, dreifach, verlieren alles, in kürzester Zeit. Das Vermögen des reichsten Menschen der Welt stieg dank Corona um weitere 30 Milliarden Dollar. Jeff Bezos ist too big to fail. Die meisten von uns sind es nicht.
Ich dachte in den letzten Tagen darüber nach, diesen Sommer als Senner auf einer Alm meinen ganz persönlichen Neustart zu machen. Die harten Jobs da oben im Gebirge werden fast nur mehr von osteuropäischen Saisonarbeitern verrichtet. Nun aber dürfen diese nicht mehr ins Land, jede Menge Stellen sind frei. Ich könnte 2000 Euro im Monat verdienen, hätte einen 24-Stunden-Arbeitstag, 7 Tage die Woche, ohne den üblichen Komfort der Wohlstandsgesellschaft. Wenn ich nur handwerklich und im Umgang mit Kühen etwas geschickter wäre, könnte das ein neues Betätigungsfeld für mich werden. Doch ich kann Käse nicht ausstehen, überhaupt bin ich kein Anpacker, sondern ein verweichlichtes, vergeistigtes Etwas, das jeden Tag aufs Neue erwartet, von der Muse geküsst zu werden.

Schriftsteller müssen es schon im Normalbetrieb verstehen, aus einer Alltäglichkeit ein Ereignis zu machen und die Realität mittels Fantasie, wenn schon nicht gänzlich zu verlassen, so zumindest zu überhöhen. Selbst der lakonischste Autor darf nicht unbeeindruckt von den Gegebenheiten bleiben. Das Weltgeschehen dient ihm als Sprungbrett in neu zu erschaffende Welten. Also gilt beim Schreiben, den ersten Schritt in größtmöglicher Offenheit, möglichst schutzlos, möglichst nackt, mitten hinein ins Getümmel zu machen. Und dieses Getümmel ist derzeit ohne Ende. Unser coronisches Tun ist unübersichtlich. Alles ist in Bewegung. Ein solches Tumult wehrlos bewältigen zu müssen, ist eine Herausforderung. Und gleichzeitig ist es auch Motivation, Inspiration. Ein Künstlerfreund meinte kürzlich, dass für unsereins Corona das beste Mittel gegen Prokrastination sei. Man verdient zwar nichts mehr, dafür schiebt man auch nicht mehr alles auf. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es stimmt. Man steht mit dem Rücken zur Wand und schlägt um sich, nimmt zur Hilfe, was man findet, den Pinsel, den Schreibstift, die Gitarre, von mir aus. Man überschwemmt die Welt mit Online-Coronakunst, aus einer Verzweiflung heraus. Kunst entsteht immer aus Verzweiflung. Sie tritt gegen das Unheil an. Künstler sind die Kapelle auf der Titanic. Wir spielen, während unser Schiff untergeht. Wir blicken dem Untergang ins Gesicht. Beschreiben das Chaos, das wir sehen. Weil wir nicht anders können. Und doch ist all das zuweilen überfordernd.

Jede Berührung mit der Welt verletzt mich, meine Natur ist von einer übermäßigen und unbegreiflichen Empfindlichkeit. Ich merkte bald, dass Geselligkeit Erniedrigung bedeutet, und dass nur freiwillige Isolation ein bescheidenes Maß von Zufriedenheit gewährt.
Ludwig II., von dem dieses Zitat aus dem Jahre 1882 stammt, war offensichtlich ebenfalls ein H.S.P., eine highly sensitive person, wie man Mimosen wie mich heutzutage nennt. Der Märchenkönig hätte sich von niemandem als ihm selbst ins Containment schicken lassen – das dafür umso lieber. Auch ich ertappe mich an manchen Tagen dabei, wie ich mich zurück in den echten Lockdown sehne, auch wenn diese Isolation keine freiwillige, sondern verordnete war. Denn der Lockdown, der vor anderthalb Monaten ausgerufen wurde, war in seiner ersten Phase surreal wie ein Traum, weder Albtraum noch Wunschtraum, und ließ in seiner Unfassbarkeit eine Vielzahl von Möglichkeiten zu. Von bedingungslosem Grundeinkommen war die Rede, vom Schuldenerlass für die armen Länder, vom Ende spekulativer Börsengeschäfte. Für jeden ersichtlich wurden Geldbeträge nichts als Fantasiezahlen auf Bildschirmen, somit wurde alles vorstellbar, im Guten wie im Schlechten, nichts war mehr auszuschließen. Mit dem jetzigen Erwachen aber werden die Hirngespinste von der Realität überrollt. Eine Gegenwart wird re-etabliert, die schon in der Vergangenheit keine Zukunft mehr hatte. Zusätzlich zu den Schutzmasken werden heute Scheuklappen aufgesetzt. Die Perspektive wird wieder eng und immer enger. Schon besteht sie fast nur mehr aus Altbekanntem: Ausbeutung, Zerstörung, Diskriminierung. Aus Ungleichheit, dreisten Behauptungen und chauvinistischem Eigensinn. Ist das die Welt, in der ich wieder erwachen will? Nein.
Ich verkrieche mich ins Arbeitszimmer und setze den Noise Cancellation Kopfhörer auf. Er schaltet die Umgebung für mich aus.


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Sperrzonenleben, Woche #5:
Phasensprünge
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Ist das jetzt noch Lockdown? Locken wir noch oder shoppen wir schon? Wie schnell ein Monat vergeht. Nach dem erzwungenen Sabbatical für alle, brummt die Welt vor meinem Fenster wieder wie zuvor. Laut Gesundheitsminister ist „Phase 2“ erreicht. „Unter Einhaltung strenger Vorsichtsmaßnahmen“ dürfen die Menschen jetzt einkaufen gehen. Vor den Baumärkten bilden sich lange Schlangen maskierter Kunden. Sie warten stundenlang in der prallen Sonne, bis ihnen Zutritt gewährt wird, sie bekommen schlecht Luft unter ihren Mund-Nasen-Schutzmasken, sie sagen, das sei der schönste Moment seit Beginn der Ausgangssperre, vier Wochen haben sie darauf gewartet. Durch die Maskerade hat das Virus ein Gesicht bekommen und die Menschen ihres verloren. Sie nehmen es hin. Nach erfolgreichem Shopping setzen sie sich in ihre Autos und fahren heim, denn seit der Ölpreis drastisch gesunken ist und von der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel abgeraten wird, wird jede Erledigung, wenn möglich, mit dem Auto gemacht. Phase 2 macht die vorhergehende Abschwächung des CO2-Ausstoßes wieder wett.

Ich ging schon in präcoronischen Zeiten so selten wie möglich Shoppen. Unter den jetzigen Umständen fühlt es sich eher wie Waterboarding an und ich reduziere es auf das Nötigste. Mein Verhalten widerspricht dem Plan einer Regierung, die die Wirtschaft wieder ankurbeln will. Doch wie sieht der österreichische Exit-Plan überhaupt aus? Falls es eine echte Strategie gibt, scheint diese von großer Experimentierfreudigkeit und Spontanität geprägt zu sein. Zunehmend willkürlich wirkt, was unternommen wird. Warum dürfen Geschäfte nur bis genau 400 Quadratmeter aufsperren, wenn ohnehin im Inneren eine durch die Verkaufsfläche bestimmte Höchstkundenanzahl und strenge Abstandsregeln gelten? Wankelmutige Experten beflügeln übermutige Politiker. Der Innenminister träumt bereits davon, dass Polizeitrupps in Schutzbekleidung in Wohnungen eindringen, um positiv Getestete zu verhören. Staatsbürger, die das Pech hatten, sich mit einem Grippevirus anzustecken, werden also kriminalisiert. Ich habe noch nie einen Innenminister erlebt, der dermaßen vehement gegen das Image der Polizei als Freund und Helfer angekämpft hat. Und auf der Straße werden Organstrafmandate verteilt. 25 Euro, wenn ich einem Passanten zu nahe komme. Oder ist er mir zu nahe gekommen? Bekommt er oder ich den Strafzettel? Im Zweifelsfall wahrscheinlich beide.

Als ich vor einigen Jahrzehnten, in dieser Vorcoronawelt, in New York wohnte, sammelte ich fleißig Strafzettel. Ich besaß einen alten Chevrolet Station Wagon, mit dem ich ein mäßig florierendes Transport-Service betrieb. Ich brachte Musiker samt ihren Instrumenten von einem Ende der Stadt ins andere, holte sie vom Flughafen ab oder brachte sie dorthin. Zwischen den eher spärlichen Fahrten, die ich machte, musste ich das Auto irgendwo abstellen. Einen legalen Parkplatz in NYC zu finden, wo ich es länger als ein paar Stunden hätte stehen lassen können, war unmöglich. Täglich wechselnd durfte man nur auf der einen oder anderen Straßenseite parken, hinzu kamen dutzende sonstige Verordnungen, dass ich etwa nicht zu nah an einem Hydranten, einer Ausfahrt oder Kreuzung stehen durfte. Hätte ich all die Strafzettel beglichen, die ich mir aufhalste, mein Transportservice hätte ein gewaltiges Minus eingefahren. Also sammelte ich sie, statt zu bezahlen, in einer Schublade meines Schreibtischs.
Die New Yorker Polizei hätte niemals wegen einer derartigen Lappalie meine Wohnung aufgesucht, es waren nicht nur Prä-Corona-, sondern auch Prä-Giuliani- und Prä-Nehammer-Zeiten, eine viel freiere Welt im Allgemeinen. Irgendwann brachte ich die Schublade gar nicht mehr zu, so viele Strafzettel hatten sich angehäuft. Ihr Wert überstieg bei Weitem den meines Chevrolets. Jeder, den ich in New York kannte, verfuhr auf diese Art mit den Bußgeldern. Man mußte nur aufpassen, dass das Auto nicht abgeschleppt wurde. Dann hätte man es freikaufen müssen, all die Strafgelder begleichen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Viele Autos gingen dadurch für immer verloren. Meines hielt einige Jahre durch. Dann verreckte es mitten auf einer viel befahrenen Kreuzung in Uptown. Ich schob es mit letzter Kraft an die Seite, montierte die Nummerntafeln ab und überließ es seinem Schicksal. Ich hätte mir die Reparatur nicht leisten können. Diese Karre hatte mir schon viel zu viele Probleme bereitet, der Job als Transportfahrer hatte sich von Anfang an nicht gelohnt.

Heute lebe ich nicht mehr in New York City. Doch dort wie hier herrscht derzeit dieselbe Situation: Lockdown. Zu Beginn nannte man es hierzulande Ausgangssperre. Als eine Woche später der Freistaat Bayern ähnliche Maßnahmen einführte und Ausgangsbeschränkungen nannte, ging auch Österreich zu dieser Bezeichnung über. Mit der Internationalisierung der Pandemie setzte sich Lockdown durch. In Austria ist es nun eine Art Lockdown an lockerer Leine. Der Staat hat Leinenführigkeit bewiesen und wir, seine Bürger, die Hörigkeit. Schicksalsergeben scheinen wir nach wie vor bereit zu sein, alles hinzunehmen. Einige von uns tragen die Masken sogar, wenn sie allein im Auto oder auf dem Fahrrad sitzen, denn: Man weiß ja nie. Es ist unübersichtlich, was erlaubt, was verboten ist.
Jeder kennt das unangenehme Gefühl, auf der Autobahn ein Polizeifahrzeug hinter sich zu haben. Automatisch meint man, eine Geschwindigkeitsübertretung oder sonst etwas begangen zu haben. Gestern hatte ich genau dieses beklemmende Gefühl. Zufällig traf ich eine Bekannte auf der Straße, wir unterhielten uns eine Weile lang unter Wahrung der Abstandsvorschriften, riefen uns Wörter zur Sicherheit aus über zwei Metern Entfernung zu. Die ganze Zeit wurden wir von einem Einsatzwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet. Der jüngere der beiden Polizisten fotografierte uns sogar und führte offensichtlich Protokoll.
So wie ich Jahrzehnte nach der DDR meine Stasi-Akte sichten durfte, werde ich eines Tages vielleicht meine Corona-Akte sichten.

Das Verrückte dabei ist, dass wir diesem Staat, der uns bevormundet, mehr Vertrauen schenken als zuvor. Ob die Einschränkungen unseres Zusammenlebens notwendig sind oder nicht, wir befolgen sie und vertrauen darauf, dass uns das Richtige angeordnet wird. Aus jeder kleinen Statistik, die uns vorgelegt wird, lesen wir die Rechtfertigung heraus. Das tun nicht nur wir, sondern auch Bürger anderer Staaten. Egal, wie diese mit dem Virus verfahren, es scheint im Moment das Richtige zu sein. Nicht nur in Österreich, überall befördert der Ausnahmezustand diesen Patriotismus, diesen kleinen Bruder des Nationalismus. Ich habe bereits Leute mit rot-weiß-roten Schutzmasken mit dem Bundesadler auf der Wange gesehen. Freunde in London, die immer Labour wählten, zeigen inzwischen Verständnis für Johnson. Trump sitzt fester im Amt als je zuvor. Die viel geächtete GroKo in Deutschland erfreut sich jetzt 88%iger Zustimmung. Und auch ich werde nicht mehr von Ressentiments ergriffen, wenn ich das Konterfei unseres Kanzlers sehe. Mehr denn je wirkt er wie ein junger Pfarrer, wenn er die Hände faltet und dröge, in einfachen Worten zu uns spricht. Ist er denn doch nicht der böse Mensch, den er bei anderen Gelegenheiten zu verkörpern wusste? Fast empfinde ich so etwas wie Mitleid, ich kann nicht anders, als ihm eine gewisse Läuterung, einen gewissen Reifeprozess zusprechen.
Liegt das am Virus? Führt es zu gesteigerter Toleranzfähigkeit? Ist das bereits ein Sich-Abfinden mit allem, was noch kommen möge, ein Resignieren? Oder schreitet einfach die Altersmilde in Coronazeiten besonders schnell voran? Laut Farbenlehre ergeben jedenfalls Blau und Grün Türkis. Insofern scheint alles möglich, und wenn dem so ist, will ich nicht den Teufel, sondern eine Wendung hin zum Besseren für die Welt an die Wand malen.

Die Welt ist heute ein Flickenteppich aus Nationalstaaten, in denen klein gehaltene Menschen wie ich das Beste aus ihrem Schicksal machen. Unter Türkis-Blau wollte ich auswandern, heute muss ich erkennen: Es gibt jenseits der hochgefahrenen Grenzzäune kein Exil mehr. Alles ist eine No-Go-Area geworden. Ob und wann sich das wieder ändert, wird sich zeigen. Erst müssen wir hierzulande Phase 2 überstehen, danach Phase 3 oder wieder Phase 1. Sie werden es anders nennen, sie werden je nach Kurveninterpretationen hin und her springen und ich mit ihnen, was bleibt mir anderes übrig?, bis in einem Jahr oder später ein Impfstoff gefunden und kein neues Virus aufgetaucht sein wird. An die Präcoronazeit werden wir uns dann nur mehr wie an eine Erzählung erinnern.

> Journal, Literaturhaus am Inn, 15.-21.4.20
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Sperrzonenleben, Woche #4:
Think tank
>pdf #4

Die Exerzitien, die uns verschrieben worden sind, dauern seit vier Wochen an. Die Rüsttage der christlichen Kirchen, die 30-tägigen Ignatianischen Exerzitien etwa, umfassen eine ähnliche Zeitspanne und werden zu ähnlichem Datum, in der Fastenzeit, durchgeführt. Das Ziel dieser Isolationsübungen ist eine möglichst tiefe Begegnung mit sich selbst, wodurch nicht nur die Gegenwart Gottes erahnbar, sondern auch die Neuorientierung des irdischen Lebens ermöglicht werden soll. Auf Staatskosten sitzt derzeit die österreichische Bevölkerung ihre Einkehrtage aus. Einige alte Routinen haben wir abgeworfen, einige neue sind hinzugekommen. Zu meinen Routinen zählt nach wie vor das tägliche Schreiben, aber die Themensetzung, der Mindframe, änderte sich. Die zwingende Situation erfordert zwingendes Schreiben, und die Schreibkonzentration wird mit dem Fehlen äußerer Ablenkungen schärfer. Zu scharf sogar, ich schaffe es kaum, aus meiner andauernden Meditation über Sinn und Unsinn der aktuellen Geschehnisse, auszubrechen. Sie setzt sich in allem fort, was ich tue, es ist wie ein Fluch. Wenn der Sinn von Exerzitien die uneingeschränkte Beschäftigung mit dem Wesentlichen ist, so erfüllt der Lockdown diesen Zweck für mich erschreckend gut.

Als ich ein Kind war, bezog mein Onkel, ein Jesuitenpater, jährlich einen Monat lang das abgelegene Berghaus meiner Eltern in Tirol. Er besaß kein Auto, wir brachten ihn mit allem, was er für diesen Monat benötigte, hinauf auf den Berg. Wir halfen ihm, die Lebensmittel zu verstauen, auch ausreichend Wein hatte er selbstverständlich mitgenommen. Dann verabschiedeten wir uns, fuhren zurück in die Stadt und ließen den Onkel allein in der Einöde zurück. Ich fragte mich, was er wohl dort oben einen Monat lang machen würde? Sogar ein Jesuit musste doch hin und wieder etwas anderes tun als beten. „Schaltet er nicht einmal das Radio an?“, fragte ich. „Doch“, sagte mein Vater. „Und einmal am Tag geht er spazieren. Ansonsten aber bleibt er im Haus.“ Ähnlich stellte ich mir das Leben im Kloster vor, nur dass man dort wenigstens nicht allein war. Das Wort Lockdown gab es damals noch nicht in meinem Vokabular. Heute praktizieren wir alle Exerzitien. Einige von uns sind allein wie mein Onkel, sie haben mit Einsamkeit zu kämpfen. Andere sind mit ihren Angehörigen zusammen, oft mit zuvielen auf zu engem Raum, sie haben mit dem Gegenteil von Einsamkeit zu kämpfen. 

Einer meiner Freunde verbringt jährlich eine Woche der Schweigemeditation auf einer hochalpinen Schweizer Berghütte. Heuer hat ihm das Virus den Plan vereitelt. Er wird womöglich nicht allzu traurig darüber sein, denn was er von diesen abgeschiedenen Tagen berichtet, klingt nach zwanghaftem, existenzialistischem Mühsal. Stunden über Stunden sitzt er vor einer weißen Wand oder im Kreis mit wildfremden Menschen herum, denen nicht erlaubt ist, miteinander zu reden. Sie müssen keinen Mund-Nasen-Schutz tragen und auch der Mindestabstand von einem Meter wird nicht polizeilich überwacht, dennoch ist ihr social distancing bereits am zweiten Seminartag derart fortgeschritten, dass ihr Kontakt vollkommen abbricht. Bei der Ankunft begrüßten sich die Teilnehmer noch, am Ende des Seminars werden sie sich voneinander verabschieden, in den Tagen dazwischen aber herrscht eisernes Schweigen, selbst wenn gemeinsam das Essen eingenommen wird. Mein Freund erzählt von Aggressionen, die in ihm wegen Kleinigkeiten hochkamen. Inmitten der schweigenden Berghütte wurde das Schnaufen, das Schmatzen, das Rascheln des Nachbarn unerträglich. Der Geruch und die flüchtigen Blicke der anderen waren kaum auszuhalten. Der schlurfende Gang des einen. Das Gähnen des anderen. Der dort drüben konnte scheinbar überhaupt nicht still sitzen. Eine Tortur. Wer drohte durchzudrehen, durfte beim Seminarleiter um eine halbstündliche Unterredung im Büro ansuchen.

Im Vergleich dazu ist unsere Ausgangssperre ein luxuriöses Unterfangen – auch wenn es sich für den einen oder anderen wie Knast anfühlt. Doch statt auf Pritschen schlafen wir im eigenen Bett, statt Latrinen benutzen wir das eigene Klo. Wir haben gut Klopapier gehortet, auch genügend Lebensmittel und Wein. Manche werden sich wie mein Onkel an täglichen Gebeten versuchen, andere wie ich im Meditieren, manche werden das Radio immerzu aufgedreht haben, andere die Gnade des Spaziergangs bis übers Limit auszukosten wissen. Jeder aber beginnt, im Rahmen seiner Möglichkeiten nachzudenken. Dies führt den einen vielleicht zum Schluss, dass gedrosseltes Netflix Scheiße ist, und den anderen, dass die Hälfte der Dinge, die ihm vorher unverzichtbar erschienen, Scheiße waren. Für jeden von uns gibt es ein Vorher und ein Nachher. Und dazwischen, jetzt, die Krise. Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann. So hielt es der italienische Intellektuelle Antonio Gramsci in den 1930er Jahren in den Gefängnisheften fest, die er während langer Haftjahre unter der faschistischen Diktatur verfasste.

Als in den letzten Jahren unsere westlichen Demokratien immer unvollständiger, beschädigter, illiberaler wurden, die Zahl der Hybridregime und autoritär geführter Staaten zunahm, Österreich in Demokratie-Rankings abrutschte und Rechtspopulisten dank Social-Media-Blasen, Fake News und zunehmender Unbildung in weiten Teilen der Bevölkerung leichtes Spiel hatten, dachte ich oft über mögliche Schutzmaßnahmen oder Alternativen für das scheinbar auslaufende demokratische Modell nach. Ich überlegte, wie eine Mischform aus Diktatur und Demokratie aussehen könnte. Seit dem Einschlag des Coronavirus kann ich meine Gedankenspiele in der Praxis nachverfolgen. Auch all diejenigen, die ihr Häkchen auf dem Stimmzettel möglichst weit rechts abgegeben und sich einen möglichst starken Führer gewünscht haben, auch sie erkennen nun, wie sich das anfühlt, was sie begehrten. Spielerisch dachte ich darüber nach, welche Art von Autorität ich bereit wäre anzunehmen. Welchem Diktator würde ich genügend vertrauen, um mein Mitspracherecht, meine Eigenverantwortung, meine persönlichen Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten zu opfern? Ich spielte mögliche Anwärter, Anwärterinnen durch. Merkel? Sanders? Gorbatschow? Von der Leyen, Kurz, Kogler? Ein guter Diktator müsste vorallem eines sein: gut. Uneigennützig. Intelligent. Er dürfte sich nicht von niederen Motiven leiten lassen, nicht gierig, sondern selbstlos sein, müsste das Wohl aller, besonders der Unterpriveligierten im Blick haben, gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit vorgehen und Leben und Wohlstand seines Volkes schützen. Letztendlich fiel mir nur Papst Franziskus für diesen Job ein.

Diese nicht ganz ernsthaften Überlegungen sind innerhalb weniger Tage ernsthafte Realität geworden. Das Gute, Richtige hat übernommen. Ich befinde mich mittendrin in einer Diktatur von Gutmenschen. Nach den immer düster werdenden Szenarien der letzten Jahre ist das durchaus erfrischend. Aus edlen Motiven heraus, zum guten Zweck, wird die Welt umgebaut. Eine harte aber (hoffentlich) wohlmeinende Hand räumt auf. Alles wird ausgemistet. Die lächerlich gewordene Einteilung in rechts und links, die Worthülsen, die den Niedergang der Welt als Ganzes nicht aufhalten konnten, die kleinen kosmetischen Eingriffe und Kompromisse, die keine Besserung brachten, alles scheint überwunden. In diesem Tumult, der die Wirtschaft in freien Fall versetzt, verlieren wir alle etwas von dem, was wir besaßen, und gleichzeitig gewinnen wir eine Neuordnung unserer Wertigkeiten. Plötzlich gibt es mehr Zeit als Geld. Die Natur erholt sich, Auswüchse des Massentourismus scheinen der Vergangenheit anzugehören. Der Aufruhr durchzieht all unsere Grundsätze, und während wir Normen abschütteln, verlieren wir auch Rechte und Werte, die wir als gegeben annahmen. Verfassungsexperten erkennen in den Maßnahmen und Plänen der Regierung Einschränkungen und Verletzungen unserer Grundrechte, die vor Kurzem noch unvorstellbar waren. Nicht bloß die Bewegungsfreiheit, auch das Grundrecht auf Datenschutz, das Grundrecht auf Privatleben, sogar das Recht auf Schutz der persönlichen Freiheit ist in Gefahr.
Auch wenn in dieser Woche eine Art Osterfriede ausgerufen ist, das Overton-Fenster ist bereits weit in Richtung eines Polizei- und Überwachungsstaats verschoben. Aus Regierungskreisen wird die verpflichtende Handyüberwachung, vom Kanzler selbst ein staatlicher Schlüsselanhänger für Menschen ohne Smartphones ins Spiel gebracht. Der Innenminister will noch mehr Polizeipräsenz und „strafen, strafen, strafen“. Wollen, müssen wir tatsächlich alle Freiheiten aufgeben, weil das alte System, in dem wir uns verfangen hatten, nicht mehr zukunftsfähig war?

Ich werde noch einiges an Nachdenkzeit benötigen. Bin noch lange nicht fertig mit dem Abwägen. Früher erschienen mir vier Wochen als lange Zeitspanne. Workoholic, der ich war, wurde mir jeder Urlaub bereits nach einer Woche zu lang. Nun zerfließt die Zeit, ohne dass ich es bemerke. Gestern beim Spazierngehen hätte ich beim besten Willen nicht mehr sagen können, ob Dienstag oder Mittwoch war. Ein Datum spielt keine Rolle mehr, mein Terminkalender, auf den ich früher stündlich blickte, hat den Inhalt verloren. Es herrscht große Narrenfreiheit inmitten meiner augenscheinlichen Unfreiheit. Vielleicht werde ich einiges aus der präcoronischen Zeit in die Postcoronawelt hinüberretten und bei anderem froh sein, wenn es für immer verloren geht? Vom täglichen Schreiben abgesehen, welche früheren Routinen und welche aus dem Lockdown werde ich in Zukunft beibehalten? Will ich wirklich irgendwann wieder jedes Champions League Match streamen oder bin ich über diese Angewohnheit hinweg? Ein Leben ohne Fußball hätte ich mir kaum vorstellen können. Heute erscheint mir das absurd. War das ich? Die gute alte Zeit jedenfalls, das muss ich mir gerade im Zusammenbruch der Welten bewusst machen, es hat sie grundsätzlich nie gegeben. Wenigstens aber, das bleibt zu hoffen, könnte eine gute neue Zeit bevorstehen.


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Sperrzonenleben, Woche #3:
Achterbahn
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In seinen eigenen vier Wänden eingesperrt zu sitzen, dem Zusammenbruch und der umkämpften Neuordnung der Welt da draußen tatenlos zusehen und immer restriktivere Einschränkungen meiner persönlichen Freiheit hinnehmen zu müssen, ist eine emotionale Herausforderung. Ich begrüße die Taktik unserer Regierung nach wie vor, weil sie uns zu einem grundsätzlichen Überdenken unseres Lebensstils zwingt. Wie bisher hat es nicht weitergehen können, nun könnten endlich neue Perspektiven entstehen. Nach wie vor bin ich Dreamer, not the only one. Andererseits sagt der Vernunftmensch in mir, dass ich für die Entscheidung, Zehntausenden die Existenzgrundlage zu zerstören, um ein paar hundert Senioren zu schützen, nicht die Verantwortung übernehmen will. Zu sterben empfinde ich als etwas völlig Normales. Jeder tut es. In Armut, Perspektivlosigkeit, in Erniedrigung oder Unterdrückung zu leben, sollte hingegen niemandem zugemutet werden. Eine gewaltige Umwälzung ist in Gang getreten worden. Ich habe sie mit großem Optimismus Willkommen geheißen. Allmählich aber beginnt mich die Situation an die DDR zu erinnern, wo ich in den 1980er-Jahren auf Tournee war. Erst vor Kurzem durfte ich die Stasi-Akte sichten, die der Geheimdienst damals von mir angelegt hatte.
Kennen Sie den Bestseller Der Circle von Dave Eggers? Er beschreibt bildlich, wie eine Gesellschaft aus grundsätzlich edlen Motiven schrittweise in einen unmenschlichen Polizeistaat übergeht. Die Anfänge lesen sich wie Österreich im Frühjahr 2020.
„Wir tun es, weil es das Richtige ist“, sagt unser Bundespräsident, den ich als integre Persönlichkeit kennengelernt habe. Fakt aber ist, dass niemand mehr weiß, was das Richtige ist. Es gibt nur Vermutungen, Hypothesen. Wissenschaftliche Grundlagen fehlen, Forscher nennen weit auseinandergehende Zahlen, Experten widersprechen sich gegenseitig. Wir alle haben den Maßstab für Richtig und Falsch, für Gut und Böse verloren. Die Coronakrise, in der verlässliche Daten fehlen, ist eine Frage des Glaubens geworden. Erschreckend ist nicht der Virus selbst, dem hauptsächlich männliche Über-80-Jährige zum Opfer zu fallen scheinen, sondern was wir daraus machen. Wir: eine eingeschüchterte Informationsgesellschaft, dermaßen verunsichert, dass sie alles mit sich machen lässt. Wenn es heute heißt, Kontrolle und Macht über das Virus zu gewinnen und seine Ausbreitungskurve „gegen Null“ einzudämmen, dann heißt das, Kontrolle und Macht über uns Bürger zu gewinnen und unsere Rechte und Freiheiten einzudämmen.

Als größte Gefahr dieses Virus entpuppt sich seine Verführung zum Machtmissbrauch. Corona ist nicht länger eine medizinische Krise (war es in Österreich zum Glück auch nie), sondern ein politisches Ereignis. Gestern wurden einige Schwererkrankte aus Frankreich in einem Salzburger Spital aufgenommen. Das ist eine schöne Geste und zeigt, wie wenig dramatisch die Situation bei uns ist, gleichzeitig ist es paradox, dass nur mehr Coronapatienten Staatsgrenzen überschreiten dürfen. Für alle anderen sind die Grenzzäune auf unbestimmte Zeit hochgefahren. Strikt voneinander abgetrennte Regionen sind entstanden, innerhalb derer die Machthaber erproben, wie weit man gehen kann. Nicht länger hat die Stunde der Humanisten geschlagen, sondern die der Opportunisten. Orban hat als Erster die Überrumpelungstaktik angewandt. Vielleicht sind manche Regierungen selbst von der Situation überrumpelt worden, wohl steckt bei dem einen oder anderen Machthaber Hilfslosigkeit dahinter, die sich in wildem Aktionismus niederschlägt, allmählich aber beginnt jeder, die Gunst der Stunde und unlimitierten Möglichkeiten zu erkennen, die ihm Corona bietet. War in Präcoronazeiten eine Festung Europa entstanden, um Flüchtlinge fernzuhalten, entsteht nun eine kontinentale Ansammlung von Festungen, um alles Ausländische auszusperren. Dies geschieht nicht aufgrund einer tatsächlich greifbaren feindlichen Intervention, sondern wegen eines Grippeviruses, das sich nicht im Geringsten um Nationalgrenzen schert. Wollte man ihm gegenübertreten, müsste man gemeinschaftlich vorgehen, die Welt als eine Welt sehen. Das Gegenteil ist der Fall.

Womöglich liegt meine schwindende Hoffnung auf eine bessere postcoronische Welt auch am plötzlichen Wetterumbruch? Alles stürzt da draußen in sich zusammen, auch die Temperaturen. Das ganze Jahr hatten wir keinen Winter, nun plötzlich, während aus der Antarktis eine Hitzewelle gemeldet wird, die in Coronazeiten niemanden erregt, ist der Winter da. Die Straßen wären heute auch ohne Ausgangsverbot leer. Wenn es in Lockdownwoche 4 wieder wärmer wird und sich die Panik der inzwischen höchst verwirrten Gesellschaft, deren Teil ich bin, und die Kontrollsucht ihrer Anführer weiter steigern, werde ich mich in tiefste Wälder verkriechen müssen, wo mich weder Apps noch Hubschrauber aufspüren. In vielen Science-Fiction Filmen wird die Zukunft als Rückschritt in eine primitive, archaische Welt dargestellt. Ist das die „Neue Normalität“, auf die wir uns, wie unser Kanzler stets betont, einstellen müssen? 13 Staaten haben eine niederländische Petition zur Bewahrung der europäischen Demokratien unterzeichnet, Österreich nicht. Ich versuche, erfolglos, so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Sich auszumalen, wo alles hinführen könnte, ist eine deprimierende Beschäftigung geworden. Lieber will ich versuchen, das Hier und Jetzt wahrzunehmen:
Ich habe sehr viele Freiheiten und Rechte eingebüßt, aber im Grunde geht es mir nicht schlecht. Ich erkenne nach wie den Nutzen für die Natur, wenn das Raubtier Mensch möglichst lange in seinem Käfig eingesperrt bleibt. Statt Autolärm höre ich Vogelgezwitscher. Das weiß ich zu schätzen. Meinen deutschen, inzwischen unerreichbar entfernten Nachbarn fällt das erzwungene Dolce Far Niente schwer. Schon am vierten Tag ihres Lockdowns beginnen sie zu murren: Wie lange noch! Deutsches Far Niente ist ein Oxymoron. Die Italiener wiederum, eigentlich Meister darin, müssen sich bereits mit ausgerufenen sechs Wochen Stillstand (inklusive totalitär anmutender Überwachung) arrangieren. Ihre Wirtschaft liegt am Boden, die Regierung verteilt Lebensmittelgutscheine, und seit die Plünderungen losgingen, bewacht das Militär die Supermärkte. Österreich hat denselben Weg eingeschlagen. Der Unmut steigt, die Lebensmittelpreise steigen, die Arbeitslosigkeit hat den höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht. Gleichzeitig gewöhnen wir uns an das Nichtstun. Wer kann sich noch vorstellen, in ein paar Wochen wieder arbeiten zu gehen? Wird es den Arbeitsplatz überhaupt noch geben?

Ich sitze also, irgendwie zufrieden, irgendwie irritiert daheim. Gehe ich nach draußen um einzukaufen, gehe ich ohne Handy oder schalte Bluetooth und Ortungsdienste aus. Ich bin gezwungen, eine Gesichtsmaske überzuziehen, von der mir letzte Woche gesagt wurde, sie bringe keinen Schutz. Nun bringe sie wenigstens Fremdschutz, heißt es, wir sollen uns daran gewöhnen, es wird Teil der neuen Normalität sein. Derselbe Kanzler, der vor wenigen Jahren das Vermummungsverbot ausgerufen hat und Passanten bestrafen ließ, die sich den Schal bis über die Nase zogen, geht zur Maskenpflicht für alle über. Auch ich habe mir nun eine Maske genäht, die als Schutz zwar vollkommen lächerlich ist, mir aber, wenn schon keine Viren, so wenigstens die Polizei vom Leibe hält.
Selbst wenn ein Politiker nicht freimütig die Demokratie aushebeln will, was macht es mit ihm, wenn er, der üblicherweise bei allem, was er sagt und tut, auf Widerstand stößt, nun plötzlich beliebig über sein Land verfügen kann? Welche Allmachtsfantasien befördert das? Endlich kann der Kanzler König von Österreich sein. Was immer er befiehlt, wir führen es aus. Käme ihm aufgrund eines Expertenrates in den Sinn, dass wir ab nächster Woche nur mehr mit erhobenen Händen außer Haus gehen dürfen, wir müssten es tun. Und da sich das Virus nun scheinbar hauptsächlich zuhause verbreitet: Wann kommt ihm die Idee, unsere Wohnzimmer mit Überwachungskameras auszustatten? Noch scheint dies kaum vorstellbar. Doch alles, was momentan geschieht, war gestern noch nicht vorstellbar. Nichts ist länger auszuschließen. „Unser Weg hat erst begonnen“, steht auf einem verblichenen Wahlplakat unseres Kanzlers, das vorne an der Straßenecke noch immer hängt. Gerne würde ich ihn an seine Worte erinnern, die er nach Ibiza von sich gegeben hat: „Genug ist genug.“ Genug Verunsicherung, genug Zerstörung ist erreicht, die Stimmung in der Bevölkerung kippt. Empathie war gestern, heute herrscht Misstrauen. Jeder, wirklich jeder im Land, hat Angst. Die einen vor Ansteckung, die anderen vor wirtschaftlichem Ruin, die nächsten vor dem Abdriften in ein autoritäres Überwachungssystem. Alle haben Angst voreinander und Angst davor, dass dieser Zustand sich noch ewig so hinzieht und verschärft.

Grundlage dieser Existenzängste, Rechtfertigung aller gekommenen und noch kommenden Freiheitsbeschränkungen ist eine grafische Kurve. Von ihr hängt alles ab. Leider aber ist sie alles andere als aussagekräftig. Die bisher gesammelten Daten sind völlig unzuverlässig, schreibt John Ioannidis, Professor für Medizin, Epidemiologie und Statistik an der Stanford University. Wir wissen nicht, ob wir uns beim Erfassen der Infektionen um den Faktor 3 oder den Faktor 300 täuschen. Und er stellt diesselbe Frage, die mir seit Woche#1 niemand beantworten konnte: Wie sollen wir wissen, an welchem Punkt eine solche Kurve stoppt?
Wir alle führen ein Dunkelzifferdasein. Auch die Mortalitätsrate des Virus lässt sich aufgrund dieses Unwissens nicht bestimmen, sie war immer umstritten, heute gehen die Angaben mehr denn je auseinander. Zudem ist es Interpretationssache, welcher Todesfall auf das Coronavirus zurückzuführen ist, sofern keine Autopsie gemacht wird. Wieviele Menschenleben also tatsächlich durch die Lockdown-Taktik gerettet oder zerstört werden, kann niemand ernsthaft sagen.
Letzten Sommer ist mein Vater, 92-jährig, nach 11-jähriger Demenz verstorben. Ich war bei ihm bis zum Schluss, auch wenn er mich schon seit Jahren nicht mehr erkannte. Ich verbrachte wunderbare und verwunderliche Stunden an seiner Seite, während sein Körper allmählich seinem Geist folgte und sich auflöste. Der Tod meines Vaters hatte sich unerträglich lange hinausgezögert, schließlich war er eine Erlösung, nicht nur für meinen Vater selbst, sondern für alle in seinem Umfeld. Es gab letzten Sommer offiziell noch kein Corona in Tirol. Womöglich hätte es sein Sterben beschleunigt? Eine Autopsie wurde nie gemacht.
Heute gibt es ausschließlich Corona, nichts anderes kann Thema sein. Die anderen Krisen sind nicht verschwunden, die Klima-, die Flüchtlingskatastrophe, der sich anhäufende Plastikmüll, der durch Milliarden neu produzierter Schutzmasken nicht weniger wird. Doch wir können jetzt nur an das Eine denken. Auch ich bin aufgeregt und sensationslüstern: Jeden Abend studiere ich die aktuellen Daten und Grafiken der Johns Hopkins Universität und träume danach von diesen blutroten Kreisen, die dunkelgraue Kontinente unter sich ertränken. Es gleicht einem Horrorfilm, einem Wettlauf ins Verderben, uneinholbar liegt derzeit die USA voran. Wahrscheinlich ist es dieselbe Sucht, mit der man TV-Serien verfällt, aus der heraus ich diese Website öffne, selbst wenn ich weiß, wie wenig aussagekräftig die verwendeten Daten sind. Die täglich anschwellenden Coronakreise auf dieser Weltkarte und die allabendlich präsentierte Verlaufskurve des ORF sind meine Begleiter durch eine absurde Zeit. Werde ich die Grafiken vermissen, wenn alles überstanden ist? Wird dann bereits eine neue Kurve gefunden sein? Würde uns etwa die Kurve der jährlichen Grippewellen mit ihrer ungleich höheren Zahl Erkrankter und Toter präsentiert werden (vorletztes Jahr nur in Österreich: 440.000 Erkrankte, 2850 Tote), sie würde die Bevölkerung ebenso in Angst und Schrecken versetzen und willig machen, alles hinzuwerfen, alles zu tun, um diese Kurve flachzuhalten.

Im Mittagsjournal berichtet eine Mitarbeiterin eines Krankenhauses, dass es in ihrer Station nicht genügend Masken gebe und Hygienevorschriften nicht eingehalten würden. Die Frau will aus Angst vor Verwerfungen an ihrem Arbeitsplatz – ein Zeugnis der Stimmung im Land – unerkannt bleiben, deshalb wird ihre Stimme im Radio elektronisch verfremdet. Es klingt als interviewe der Reporter Mickey Mouse. Unweigerlich stellt er seine Fragen bald in einem kindlichen Duktus.
Ich habe keinen Arbeitsplatz, zu dem hinaus ich gehen könnte. Gehe ich trotzdem hinaus, um mir die Beine zu vertreten, treffe ich inzwischen auf Passanten, denen der neue Winter und die neue Normalität in die Herzen gekrochen zu sein scheint. Von der Herzlichkeit zu Beginn des Lockdowns ist nichts mehr zu spüren, stattdessen Misstrauen und Verunsicherung. Vielleicht aber ist meine Umwelt einfach ein Spiegel, der mir jenes Gesicht zeigt, mit dem ich selbst hineinschaue? Ein ernüchtertes Gesicht, desillusioniert. Ich gehe wieder heim, schlucke ein paar Johanniskrauttabletten und setze das stumpfe Tonleiternüben auf dem Klavier fort, mit dem ich jede Menge Zeit totschlage. Tonleitern in allen Lagen, von Dur bis zum Melodischen Moll, pentatonisch, dorisch, phrygisch, mixolydisch. Ich habe Angst, eine Sehnenscheidenentzündung zu bekommen, wenn ich zuviel übe. Eine Freundin von mir hat inzwischen starke Rückenschmerzen, weil sie sich im zu langen Lockdownyoga überdehnt. Vielleicht sollte ich ein neues künstlerisches Projekt beginnen, das nichts mit Corona zu tun hat? Morgen vielleicht. Morgen wird ein anderer Tag sein. Dann werde ich alles anders sehen können.


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Sperrzonenleben, Woche #2:
Gleichschaltung
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Die Kirchglocken bimmeln plötzlich wie verrückt. Ich schaue auf den Kalender, ob denn schon Ostersonntag sei? Die Zeit verfliegt momentan ja wie verrückt, weil die Tage einförmig geworden sind, eine Abfolge kleiner Routinehandlungen, es macht keinen Unterschied mehr, ob Wochentag oder Wochenende ist. Doch Ostern ist erst in zwei Wochen. Unsere Pfarrgemeinde kompensiert die ausfallenden Gottesdienste durch exzessives Glockenläuten. Der Pfarrer sitzt wohl allein im Gotteshaus vor einer Kamera, die Gläubigen sitzen daheim vor dem Stream und lauschen seiner Predigt. Es dauerte nicht lang, dass das „Angebot für Gläubige“ ausgebaut wurde. Am siebten Tag des Lockdowns wird dem Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn in der abendlichen Hauptnachrichtensendung großzügig Fernsehzeit gegönnt, um darüber zu referieren, dass dieses Virus keine Strafe Gottes, aber womöglich ein Zeichen Gottes sei. Auch Papst Franziskus legt einen Sondersegen „Urbi et orbi“ im strömenden Regen auf dem menschenleeren Petersplatz ein, vor dem Haupttor der Peterskirche wird das wundertätige „Pestkreuz“ aufgestellt. Der slowakische Generalvicar Brodek wiederum besteigt ein Flugzeug und fliegt ein mittelalterliches Tuch, das mit Jesu Christis Blut getränkt sein soll, über das ganze Land. Die Bischofskonferenz ruft die Gläubigen auf, der Kraft dieser Reliquie zu vertrauen und für den Erfolg der Aktion zu beten. Die Kirchen wittern die Chance, ihre Gemeinden, die sich in den letzten Jahren, nicht bloß wegen der ständigen Missbrauchsskandale, zusehens ausgedünnt haben, wieder zusammenzubringen. Doch nicht nur in dieser Neuhinwendung zu Gott wird die Dimension der Coronakrise spürbar.
Der französische Staatspräsident Macron hat bereits verkündet, dass sich Frankreich im Krieg befinde. Und Krieg bedeutet nicht nur Einschränkung persönlicher Freiheiten, sondern augenblicklich auch Mobilisierung, Moralisierung und Manipulation der Massen. Durch die Medien geht ein Schwenk. Nachrichtensendungen werden dramaturgisch auf ihre Wirkung abgestimmt, sie dienen nicht länger bloß nüchtern-neutraler Berichterstattung. „Wir halten durch, wir halten zusammen, wir machen das gut, aber wir müssen es noch besser machen“, lautet das Motto. Venceramos! In Krisenzeiten sind Informations- auch Motivationsendungen. Der bayrische Nachrichtensender B5-Aktuell ist bereits am dritten Tag der dortigen Ausgangsbeschränkungen zu einer Guten-Laune-Welle mutiert. Wo kritische Wirtschaftsnachrichten gesendet wurden, laufen nun Telefonsendungen mit Hörern über Tipps und Tricks im eigenen Garten, dazwischen fröhliche Musik, und in Sachen Corona wird nicht die Zahl der Neuinfektionen, sondern jene der Genesungen berichtet. 422 Infizierte haben die Krankheit mit heutigem Tag überstanden. Dass sich 27.289 angesteckt haben, muss man im Internet selber recherchieren. So manchen Bürger treibt die Suche nach Fakten in den unwegsamen Informationsdschungel des World Wide Webs.

Jenseits der Screens erinnert allmählich auch die direkte Umwelt, die man, um etwa einkaufen zu gehen, immer noch betreten darf, an apokalyptische, aus Hollywoodfilmen bekannte Szenarien. Mehrmals täglich kreist über meinem Haus ein Hubschrauber. Womöglich überwacht er die naheliegende, geschlossene Grenze, aber er zieht seine Kreise auch über anderen Straßen. Das Rattern seiner Rotoren erinnert: Wir stehen unter Beobachtung, wir alle, unbescholtene Bürger eines vor Kurzem noch freien demokratischen Staates.
Den Supermarkt betrete ich inzwischen durch eine Desinfektionsschleuse. Drinnen sind einige Regale leer, auch die Gänge dazwischen wirken wie ausgestorben. Vor der Fleischtheke steht schwarz gekleidetes, misstrauisches Sicherheitspersonal. Ich weiß nicht genau, worauf es instruiert ist zu achten. Dass es nicht zu Ausschreitungen, um das letzte Kaiserschnitzel kommt? Dass die Leute den Sicherheitsabstand zueinander einhalten, der von Tag zu Tag größer wird? Inzwischen sind 1,5 Meter vorgeschrieben, aber die Menschen gehen sich nach Möglichkeit viel weiter aus dem Weg. Als ich vor dem Eierregal stehe, biegt neben mir eine junge Frau ums Eck, die sogleich einen derartigen Schock bekommt, mich zu erblicken, dass sie ruckartig zurückweicht und in einem Eck der Tierfutterabteilung Schutz sucht. Erst als ich meine Freilandeier genommen habe und weitergezogen bin, wagt sie, sich dem Eierregal zu nähern. In Frankreich hat der Wachdienst auch zu überprüfen, ob Kunden die Einkaufsbeschränkungen befolgen, maximal drei Stück desselben Produkts dürfen gekauft werden. In Österreich könnte ich noch meinen ganzen Einkaufswagen mit Trockenmilch, Toastbrot oder Inszersdorfer Dosen vollstopfen. Doch ich kaufe nur ein paar Eier, Milch, Butter und Bier – denn das ist eine meiner Ängste, dass von einem Tag auf den anderen der Alkoholverkauf verboten wird. Ich frage mich, ob es ohne Alkohol in so manch kleiner Wohnung, in der es nun Familien Tag und Nacht miteinander aushalten müssen, zu weniger oder zu mehr häuslicher Gewalt kommen würde? Frauen, die mit unausgelasteten, gewaltbereiten und aus Langeweile saufenden Männern sowie aus Langeweile quengelnden Kindern eingesperrt sind, zählen neben den Alleinerziehenden zu den am schlimmsten von der Ausgangssperre Betroffenen.
Es ist ein denkwürdiger Einschnitt in die Freiheiten der Bürger eines demokratischen Landes, er lotet die Grenzen des Machbaren aus. Den Menschen ist die Bewegungsfreiheit genommen, das Versammlungsrecht ist ausgesetzt, der Datenschutz wird hinterfragt, und ebenso ist die Rede- und Meinungsfreiheit von einer Selbstzensur ergriffen. Nicht einmal die Aufmüpfigsten wagen derzeit kritische Denkansätze, die den Zusammenhalt und die Durchhaltemoral in Frage stellen könnten. Ich kann nicht erinnern, wann unsere Meinungen zuletzt derart konform waren. Wir alle unterstützen das Vorgehen der Regierung. Weder von rechts noch links kommt Widerspruch, auch von mir nicht. Im Stillen aber frage ich mich manchmal, ob ich wirklich derselben Meinung oder inzwischen einfach manipuliert bin? Vielleicht ist der „fahrlässige“ Umgang etwa Schwedens mit dem Virus letztendlich klüger? Hätte Österreich einen anderen Weg eingeschlagen, würde ich ihn ebenso mitgehen? Letzte Woche monierte ich noch, dass wir Menschen es in der Klimakrise nicht vermögen, an einem Strang zu ziehen, heute wird mir bei unserer Gleichschaltung mulmig zumute. So viel Einklang bin ich in einer demokratischen Welt nicht gewöhnt.

Ich telefoniere öfter denn je mit meiner Mutter. Sie habe Angst, sagt sie, diffuse Angstzustände. Sie sitzt allein in der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, zeitweise haben wir zu acht dort gewohnt, mitten in Innsbruck, mitten in Tirol, dem österreichischen Epizentrum der Coronakrise. Innsbruck ist strenger abgeriegelt als die restlichen Landeshauptstädte. Meine Mutter wird im Juni 89 Jahre alt. Sie wäre ein prädestiniertes Corona-Opfer. Doch davor hat sie nicht Angst. „Dass es uns Alte erwischt“, findet sie nicht schlimm, sondern sieht es eher als natürliche Auslese. Die Krise habe ja auch viel Gutes, meint sie, endlich werden die Leute wieder bescheidener, vernünftiger, ruhiger. „Was müssen sie denn auch ständig mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen und sich jedes Jahr ein neues Auto kaufen?“ Und besonders gerecht findet meine Mutter, dass endlich diese gierigen Skizirkusbetreiber die Rechnung serviert bekämen. Dennoch hat sie Angst. Die Situation versetzt sie in jene Zeit zurück, die sie als Teenagerin in Luftschutzbunkern verbringen musste. Seit 75 Jahren ist der Krieg nun aus, und doch steckt er tief in ihr fest. Das Trauma wird sie bis in ihren Tod begleiten. Der Tod an sich jagt meiner Mutter keine Angst ein, aber keinesfalls will sie ihre letzten Lebensjahre in einem Luftschutzkeller verbringen. „Wenigstens fallen keine Bomben auf uns herab“, sagt sie. „Es ist heute ein anderer Feind, den wir bekämpfen müssen. Die Natur schlägt zurück, und das kann man ihr nicht verdenken.“
Darüberhinaus wird meine Mutter von einem schlechtem Gewissen geplagt. „Nur wegen unsereins tun sie das alles“, sagt sie. Die Wirtschaft, das gesamte öffentliche Leben wird auf unbestimmte Zeit heruntergefahren, der Wohlstand gefährdet. Meine Mutter fühlt sich unwohl, fast schuldig, dass die Zukunft der jungen Menschen aufs Spiel gesetzt wird, damit Alte und Kranke wie sie ein paar Jahre länger leben können. „Es braucht uns doch niemand mehr“, sagt sie. Sie wollte nie zur Belastung für andere werden. „Das bist du nicht, Mama“, sage ich, und doch weiß ich, was sie meint. Das Durchschnittsalter der hierzulande bislang verstorbenen Coronapatienten ist 81 Jahre. Meine Mutter blickt auf ein anstrengendes Leben zurück. Zuerst der Krieg, dann die Nachkriegszeit, dann vier Söhne, darunter ein Fratz wie ich, schließlich 11 Jahre, in denen sie sich um ihren demenzkranken Ehemann kümmern musste. Sie hätte sich jetzt wirklich noch ein paar schöne, geruhsame letzte Jahre verdient.

Ausnahmesituationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, heißt es jeden Tag. Das Eigenartige ist, dass in dieser Ausnahmesituation die Gegenmaßnahmen mehr Angst machen als der Feind an sich. In seiner derzeiten Gestalt besitzt das COVID-19 eine Mortalitätsrate von 0,3 Prozent. Auf die momentan in Österreich etwa 3000 bestätigten Coronaerkrankungen kommen 9 Todesfälle, ausnahmslos alte und vorerkrankte Menschen. Der Großteil der Infizierten, man schätzt bis zu 70 Prozent nehmen die Krankheit nicht einmal wahr, in den allermeisten Fällen nimmt sie einen milden Verlauf. Dennoch: ein beispielsloser Ausnahmezustand für jeden einzelnen von uns. Normalerweise sterben in Österreich täglich rund 230 Menschen. Durch Corona sind es ein paar Kommastellen mehr. Es ist außergewöhnlich, wie wir darauf reagieren. Plötzlich schaffen wir es, jedes einzelne Menschenleben ernst zu nehmen, wert zu schätzen. Wir sehen, anders als in der Flüchtlingsfrage, nicht bloß die kalte Zahl vor uns, sondern das Individuum, das dahinter steckt, ein menschliches Wesen, das es verdient, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Die Bürger, die wie vorgeschrieben zuhause bleiben und keine physischen sozialen Kontakte pflegen, sind, so nennt es der Gesundheitsminister, Lebensretter. Jene Unbelehrbaren, in etwa 5 Prozent der Bevölkerung, die sich den Regeln widersetzen, sind „Lebensgefährder“. Wir alle stimmen zu. Normalerweise haben mathematische Berechnungen nicht die Macht, uns emotional zu beeinflussen. Wir sehen grafische Kurven vor uns, nicht die einzelnen Schicksale dahinter. Auch Schreckensbilder aus anderen Ländern gehen uns normalerweise nicht besonders nah. Egal, wie viele Menschen in Afrika verhungern oder im Mittelmeer beim Versuch ertrinken, nach Europa zu gelangen, wir führen unbeirrt unseren Lebensstil fort, selbst wenn wir wissen, wie negativ er sich auf die Welt auswirkt. Nun aber ist alles anders. Wir legen alles hin, um das Leiden weniger Menschen zu mindern. Logistisch ist unsere Reaktion einleuchtend: Die Versorgung der voraussichtlich in den kommenden Wochen und Monaten erkrankenden Menschen wird gesichert. Moralisch aber wirkt sie, nach all dem, was in den letzten Jahren hierzulande gesagt und getan wurde, verblüffend. Nachdem wir abertausende Flüchtende sterben haben lassen, versuchen wir jetzt jede österreichische 90-Jährige zu retten. Rational ist (noch) nicht erklärbar, was plötzlich diese Mitmenschlichkeit in uns auslöst, aber im Eiltempo haben wir bewiesen, dass wir dazu fähig sind. Wir pfeifen auf das Wirtschaftssystem – obwohl uns ständig vorgesagt wurde, dass dieses uns im Grunde seines Wesens kein Pausieren erlaubt. Zeit war Geld, uns ging es nur gut, wenn es der Wirtschaft gut ging. Das Hamsterrad, auf dem wir gefangen waren, drehte sich von Jahr zu Jahr schneller, wir hechelten hinterher, uns war nicht gestattet, unproduktiv zu sein. Ein Ausstieg aus dem Leistungsdruck wurde unvorstellbar. Nun, urplötzlich, aber ist er da. Wir alle haben sofort genickt, als es von einem Tag auf den anderen hieß: Maschinen still. Sogar unser Kanzler, ein eng mit der Wirtschaft verbundener Politiker, der nicht gerade als Lebensretter bekannt ist, sondern am liebsten alle erdenklichen Routen schließt, um Flüchtenden aus Kriegs- oder Notstandsgebieten die Hoffnung auf ein besseres Leben zu nehmen, sogar er zögerte nicht eine Sekunde. Ist er, sind wir denn alle plötzlich leidenschaftliche Humanisten geworden? Oder leidenschaftliche Patrioten?

Es muss etwas viel Tieferes als die augenscheinliche Gefahr dieses Virus dahinter liegen, das uns bewegt zu handeln, wie wir handeln, eine tiefere Angst, ein tieferes Verlangen. Es wirkt, als sehnten wir uns nur nach einer solchen Möglichkeit, endlich abzuschalten. Dass wir der Gesundheit wegen und aller ökonomischen Folgen zum Trotz alles stillstellen, ist eine irrationale und rationale Handlung zugleich – und eine höchst zivilisierte.
Wir alle kapieren, dass angehalten werden muss. Die Fridays for Future-Bewegung hat viel zu unserem Verständnis beigetragen, jedem sind die Ausmaße der von uns verursachten Klimakatastrophe bewusst. In der Bevölkerung hat ein Umdenken eingesetzt, längst schon sind es nicht mehr anti-kapitalistische Spinner, die eine sofortige Änderung unseres Wirtschaftssystems fordern, das im Begriff ist, den Planeten Erde mitsamt der Lebewesen, die sich auf ihm tummeln, zu zerstören. Bislang aber fehlte der akute Anlass, den Schritt in die Veränderung zu tun. Wichtige Zeit verstrich, es war fünf Minuten, vier Minuten, drei Minuten vor Zwölf, die Weltuntergangsuhr tickte. In hoffnungsvollen Appellen hieß es, es sei spät, aber noch nicht zu spät, wir würden noch eine Chance haben, würden wir augenblicklich handeln. Doch wir handelten nicht, der Augenblick war nicht gekommen. Kein Land konnte allein den ersten Schritt tun, das wäre wirtschaftlicher Selbstmord gewesen und hätte ihm nichts als den eigenen Ruin gebracht. Es bedurfte eines gewaltigen globalen, nicht lokalen Paukenschlags. Eine Epidemie (nur China) hätte nicht gereicht, es bedurfte einer Pandemie. Nun drücken wir die Pausentaste. Das Virus, dieses unsichtbar kleine Ding, ermöglicht beides, wonach sich unsere übers Limit hinausgetretene Konsumgesellschaft sehnt: Einerseits die Sensation, andererseits die Ruhe. Aufruhr und Stillstand zugleich. Wir werden Zeugen einer historischen Veränderung. Wann gab es zuletzt eine Pandemie? Zur spanischen Grippe muss man hundert Jahre, zur Pest noch weiter zurückblicken. Die jungen Menschen heute freuen sich jetzt schon darauf, ihren Enkelkindern eines Tages erzählen zu können, die große Corona-Pandemie 2020 mit- und überlebt zu haben. Und inmitten dieses epochalen Ereignisses setzt das große Durchatmen ein. Die Welt, deren Koordinaten einbrechen, steht still, momentan sind knapp 3 Milliarden Menschen weltweit von Ausgangssperren betroffen, sogar Indien hat den ganzen Subkontinent unter Hausarrest gestellt. Über ein Drittel der Weltbevölkerung bleibt heute zuhause. Im Auge des Coronasturms herrscht zugleich ge- und entspannte Ruhe. Auf Wochen, vielleicht Monate hin sind wir eingesperrt in mehr oder weniger kleinen Wohnräumen und mehr oder weniger kleinen Regionen. Unsere Vermögen werden vernichtet. Auch ich persönlich bin davon nicht ausgenommen, nahezu sämtliche anstehende Produktionen dieses Jahr sind bereits abgesagt oder verschoben worden, nach derzeitigem Stand werde ich 2020 kein Einkommen mehr haben. Ich werde neue Ideen entwickeln müssen. Unverhofft ist uns allen nicht nur die Möglichkeit, sondern gar Verpflichtung gegeben worden, auf neue Gedanken kommen, frei zu visionieren. Das Korsett, das sich über unser Denken gelegt hatte, wird abgeworfen, kein Produktionsdruck nötigt uns länger. Wenn nicht jetzt, wann dann ist der Zeitpunkt gekommen, uns neu zu erfinden und alles neu zu denken zu versuchen? Höchstens die Angst hindert uns noch daran zu überlegen, wie eine andere, bessere, wirklich freie Welt aussehen könnte, die aus dem jetzigen Zusammenbruch entsteht. Der Anfang ist bereits gemacht. Die Mitmenschlichkeit, die wir unseren Alten gegenüber beweisen, lässt sich womöglich auch auf andere übertragen, auf Fremde, auf Ausländer, auf alle schutzbedürftigen Geschöpfe? Nun, da mitten im Social Distancing eine neue Menschennähe entsteht, ist dies nicht länger ausgeschlossen.


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Sperrzonenleben, Woche #1:
St. Patrick's Day, zuhause statt im Pub
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Österreich im Frühjahr 2020: Die Grenzen sind geschlossen. Zwar dürfen Waren noch passieren, Menschen aber sollen weder raus noch rein. Innerhalb der Sperrzone herrscht Ausgangsverbot. Die Österreicher sind aufgefordert, ihre Wohnungen nur für dringendste Erledigungen zu verlassen. Im Rest der Welt sieht es bereits schlimmer oder noch nicht ganz so schlimm aus. Hätte ein Science-Fiction Autor dieses Szenario beschrieben und mit heutigem Datum versetzt, er wäre belächelt worden. Doch all dies ist keine Fiktion, es ist Realität. Eine Zäsur wird in unsere Geschichtsbücher eingetragen.

Der Zusammenbruch unseres Systems war seit Langem vorhersehbar, dennoch hatten höchstens Virologen damit gerechnet, dass der Spätkapitalismus, mit dem wir Menschen uns vor uns selber herscheuchen, auf diese Weise ein Ende, zumindest eine Verschnaufpause findet. Ein Virus, das, so vermutet man, auf einem Tiermarkt der chinesischen Stadt Wuhan von einem Schuppentier auf den Menschen übergesprungen ist, zwingt uns anzuhalten, schafft, wozu wir aus eigenem Antrieb nicht imstande waren. Es zwingt die globalisierte Wirtschaft in die Knie und gibt uns Zeit, die Dinge neu zu überdenken. Dieses Virus, das im Begriff ist, die ganze Welt zu verändern, ist ein Albtraum und eine riesige Chance zugleich. Der Neustart-Button. Ganze Gesellschaften sind angehalten, ihr Tun zu hinterfragen. Die Rastlosigkeit, die unsere hyperventilierende Weltgemeinschaft charakterisiert und den Planeten, den wir bewohnen, zum Kippen gebracht hat, ist unterbrochen. Die Natur hat sich zurückgemeldet, zusätzlich zur komplexen Klimakatastrophe wurde uns ein mikroskopisch kleines Virus zugesteckt.
Ich sitze heute wie sämtliche meiner Landsleute unter Hausarrest. Praktisch alle vorgesehenen Termine der kommenden Wochen sind aus unseren Kalendern gestrichen. Nichts ist mehr, wie es war. Das muss sein, und im Grunde genommen ist es gut so. Ich begrüße, wie die meisten hierzulande, die drastischen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Verbreitung des COVID-19 einzudämmen. Es ist nicht nur faszinierend und inspirierend, wie mit einem Schlag alles heruntergefahren wurde, ich empfinde es als eine Art Befreiung.
Von Blaise Pascal stammt der Spruch, dass das gesamte Unglück der Menschen nur daher rühre, weil sie nicht vermögen, ruhig in einem Zimmer zu bleiben. Im 17. Jahrhundert hat der französische Wissenschaftler und Philosoph diesen Gedanken niedergeschrieben, heute scheint er erzwungenermaßen unser aller Lebensmotto geworden zu sein. Endlich Entschleunigung. Endlich schaffen wir, den oft als scheinbar einzig möglich dargestellten und uns und die Welt krank machenden Weg zu durchbrechen. Ein Zusammenbruch kann nie ein schöner Moment sein, und doch ist er wichtig, das wird plötzlich allen bewusst. Sogar unser sehr konservativer Bundeskanzler gab in einer Ansprache von sich, dass wir von nun an alle unsere Lebensführung vollständig ändern müssen. Womöglich hat er dies nur kurzfristig gemeint (wie der bayerische Ministerpräsident Söder, der Ähnliches sagte, es sogleich zeitlich begrenzte und mit einem Stoßgebet und den Worten „Gott schütze unsere Heimat“ abrundete)? Womöglich hofft er, jetzt nur kurz eine Pause einlegen zu müssen, bevor alles wieder genau so weitergeht wie früher? Ich hoffe und ich glaube nicht. Denn so weitergehen wie früher, in Zeiten vor COVID-19, darf es nicht, sonst ist der nächste Zusammenbruch vorprogrammiert. Die Menschheit ist dringend gefragt, neue, weniger aggressive, gemeinschaftlichere Wege des Zusammenlebens zu finden. Prioritäten müssen neu gesetzt werden, jetzt ist der perfekte Augenblick, ein Umdenken zu beginnen.
Im Frühjahr 2020 sitzt die Bevölkerung plötzlich in ihren eigenen vier Wänden herum und tut weniger als früher oder schlichtweg nichts. Was die Menschen tun, beruht großteils auf Freiwilligkeit. Eine riesige Zahl von Österreicher*innen bot sich sofort für ehrenamtliche Hilfsdienste an. Unterstützt diese Tatsache nicht die Annahme, dass die Gesellschaft bereit für ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre? Die allermeisten von uns wollen ihr Dasein nicht in Sinnlosigkeit verstreichen lassen. Und doch verschwendeten viele von uns ihre Energie bislang mit sinnlosen Tätigkeiten, ein immer größer werdender Teil gar mit Bullshit-Jobs, die niemand brauchte, oder mit Arbeiten, die von künstlichen Intelligenzen weit effizienter erledigt wurden. Viele waren nur beschäftigt, damit sie beschäftigt waren. Jetzt, mit einem Mal, sind sie nicht mehr beschäftigt. Unternehmen stehen still, die Produktivität ist vorbei, die globale Wirtschaft, wie wir sie kannten, stürzt in sich zusammen, mit verheerenden Folgen, doch auch mit den verheißenden Möglichkeiten eines Neubeginns.

Das Virus an sich, das diese Umwälzungen auslöst, stellt uns vor so manches Rätsel. Gleichzeitig wirkt es harmlos wie brandgefährlich. COVID-19 sei zwar, heißt es, den üblichen Grippeviren vergleichbar, bei denen es sich ebenfalls teils um Corona-Stämme handelt, aber es sei ansteckender, noch weniger erforscht und der Mensch habe noch keine Immunität dagegen entwickelt. Die Angaben über seine Mortalitätsrate gehen auseinander, sie liege zwischen 0,5 und 2 Prozent, je nach wissenschaftlicher Studie etwas höher oder niedriger als die der Influenza. Selbst der Laie aber erkennt, dass eine (un)heimliche Gefahr in diesem Virus stecken muss. Nicht zum Spaß hätte gerade ein wenig zimperliches Land wie China mit nie dagewesenen Mitteln augenblicklich dagegen angekämpft und sein Wirtschaftswachstum aufs Spiel gesetzt. Die halbe Welt reagiert mit Panik und harten Restriktionsmaßnahmen auf das Virus, andere Länder wiederum verhalten sich träge oder ignorieren die Gefahr komplett. Welches Kalkül, welches Hintergrundwissen liegt hinter solch unterschiedlichen Ansätzen? In Österreich, einem Land, das rasch sehr strenge Maßnahmen ergriffen hat, werden zwei Erklärungen zur Rechtfertigung herangezogen: einerseits die emotionale, andererseits die mathematische. Bilder aus überfüllten italienischen Lazaretten werden gezeigt, von in Quarantäne Sterbenden wird berichtet, die sich am Handy von ihren Angehörigen verabschieden müssen. Die mathematische Grundlage dieses Horrors ist die Exponentialkurve, die zeigt, wie sich die Zahl der Infektionen in wenigen Tagen verdoppelt. Unausweichlich landet man innerhalb weniger Wochen bei apokalyptisch anmutenden Zahlen. Sofern man es also nicht darauf ansetzt, möglichst rasch eine Herdenimmunität zu erzeugen (die bei etwa zwei Drittel Infizierten in der Bevölkerung, allein in Österreich also bei über fünf Millionen Coronafällen liegen würde), gilt es, eine Abflachung dieser Kurve zu erreichen, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Weniger einleuchtend ist jedoch, warum jede der gezeigten Grafiken, auch die stets rot markierte Kurve des Worst-Case-Scenarios, nach einigen Wochen, irgendwann im April, spätestens im Mai ihren Höhepunkt erreicht und dann dementsprechend schnell oder langsam, wie sie gestiegen ist, wieder zurückgeht. Keine unbegrenzte Exponentialkurve wird gezeigt, sondern nur ein exponentialer Anstieg bis zu einem gewissen Punkt. Dies müsste bedeuten, dass das Virus ab einer bestimmten Zahl, die sich bei etwa 5 Prozent der Bevölkerung zu halten scheint, gesättigt wäre. Ist das der Grund, warum sich einige Länder gegen besondere Restriktionsmaßnahmen entscheiden?
Es ist, als wäre ein internationales Pokerspiel eröffnet. Die Einsätze sind gewaltig hoch. Die einen Länder setzen die Wirtschaft, die anderen die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel. Beides birgt unabsehbare Risiken in sich, beides hat das Potential, unsere Welt grundlegend zu verändern. Ich bin heute eingesperrt in einem Land, das sich für Ersteres entschieden hat. Die Wirtschaftsleistung, die bislang zwar noch erfolgreich aber ebenso zerstörerisch und (selbst)ausbeuterisch war, wird als weniger entscheidend als die Gesundheit erachtet, vorallem jene der älteren Bevölkerung, der Hauptrisikogruppe. Das ist ein beachtlicher Humanismus, der sich trotz aller Entmenschlichung der letzten Jahre gehalten hat, eine Fürsorge, die selbstverständlich als Luxus einer Wohlstandsgesellschaft angesehen werden muss. Mitten in Europa können und wollen wir es uns leisten aufeinanderzuschauen.
In der Flüchtlingskrise hat Europa nach anfänglicher Hilfsbereitschaft ein ganz anderes, weit weniger menschliches Gesicht gezeigt. In der Frage, wie mit Flüchtlingen umzugehen ist, sind europäische Regierungen immer mehr dazu bereit, über Leichen zu gehen. Doch nun schreckt uns das Corona-Virus auf, und wir sehen, wie schnell es gehen kann, dass man selber auf die Hilfe anderer angewiesen sein könnte. Eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten, die in den letzten Jahren zunehmend abhanden kam, rückt ins Bewusstsein vor: Empathie. Eine alte Frau im Supermarkt, der ich gestern bei Einkäufen half, drückte es so aus: „Endlich schauen die Leute wieder aufeinander, und niemand hat es mehr eilig!“ Ich mache bei meinen Ausflügen im Sperrgebiet dieselbe Erfahrung. Leute grüßen sich, sind freundlich zu einander, halten respektvoll Abstand voneinander, denn Abstand ist die neue Nähe. Freilich wird sich mit der Zeit auch die Kehrseite dieser Mitmenschlichkeit offenbaren. Einfältige Gemüter werden bald die üblichen Urheber alles Übels ausgemacht haben. Ausländern, Flüchtlingen wird Schuld zugewiesen werden. Schon letzte Woche wurde ein chinesischer Mitschüler meiner Tochter auf offener Straße von Passanten beschimpft. Zum Glück herrscht inzwischen Ausgangssperre, so dass ihm derartige Demütigungen erspart bleiben. Auch werden wir erleben, was in China als logische Konsequenz auf den Corona-Ausbruch folgte: Die staatliche Überwachungsmaschinerie wurde weiter hochgefahren. Auch bei uns werden bereits die Bewegungsdaten von Handys analysiert, um die Einhaltung der Ausgangssperre zu überwachen. Gut vorstellbar ist inzwischen sogar, dass die EU unter diesem zusätzlichen Stresstest endgültig zerbricht. Wenn nach der Coronakrise unsere Welt nicht mehr dieselbe sein wird, ist das aber im Grunde nicht traurig, sondern notwendig, längst überfällig. Dass wir unseren Lebensstil nicht mehr lange so weiterführen hätten können wie vor COVID-19, war jedem von uns klar. Doch bislang schafften wir es nicht, uns aufzuraffen und an einem Strang zu ziehen. Nun gibt uns das Virus einen mächtigen Arschtritt. Es weckt uns nicht nur auf, sondern in der derzeitigen Phase der Krisenbewältigung schickt es uns auch auf Klausur mit uns selbst. Es stellt uns Einkehrtage zur Verfügung, die nicht bloß dem TV-Serien-Bingen, sondern auch dem Reflektieren dienen. Von uns ist verlangt, zu Hause zu bleiben, wir haben Möglichkeit, Anlass und Muse zu sinnieren, darüber nachzudenken, was wir bis hierhin geleistet und was wir verbrochen haben. Im Zuge dieses massiven Umbruchs können wir eine neue Perspektive gewinnen. COVID-19, bei all seinem Schrecken, macht nicht nur Angst, sondern kann auch Katharsis sein. Durch das geöffnete Fenster meines Arbeitszimmers dringt das frühlingshafte Zwitschern der Vögel, kaum noch Autos fahren vorbei, kaum noch ein Flugzeug oben am Himmel, unten auf der Straße vereinzelte Menschen, die eine Zurückgenommenheit, sogar Demut ausstrahlen. Innerhalb unserer Wohnung herrscht Müßiggang. Und um Punkt 18 Uhr erscheint jeden Abend ein Kind auf dem gegenüberliegenden Balkon und bläst ein paar Minuten lang inbrünstig in seine Trompete. Obwohl der Bub mehr schlecht als recht spielt, applaudieren Nachbarn aus ihren Fenstern. Die gruselige Coronakrise zerstört nicht nur alles, sie zeichnet auch ein neues, erstrebenswertes Bild für die Zukunft. Sie gibt Hoffnung auf eine neue Welt, eine Welt mit neuen Prioritäten und neuem Verständnis für ein Mit- statt einem Gegeneinander.

 

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(aus dem im Herbst erscheinenden Album "Convertible: Holst Gate 2",
Text: Hannah MacKenna, Musik: Hans Platzgumer)
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Lockdown Fotos: Hans Platzgumer
Portraitfoto: Chris Laine
Copyright: Hans Platzgumer, 2020
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